
«Omar findet, wir leben hier wie die Maden im Speck.» Brigitte muss schmunzeln. Sie lernt ihren Mann vor 15 Jahren auf einer Reise durch Ecuador kennen und zieht kurze Zeit später mit ihm nach Minca, einem kleinen Dorf in der Nähe von Santa Marta. «Ich habe damals meine gesamte Altersvorsorge aus Pensionskasse und dritter Säule genommen. Zusammen mit dem Erbe meiner Grossmutter waren das knapp 80’000 Franken.» Von dem Geld kauft Brigitte in Kolumbien Land, auf dem sie und Omar ein Haus sowie eine Gästeunterkunft bauen. «Dafür habe ich einen Grossteil meiner Altersvorsorge eingesetzt.»
Brigitte Solis hat ihren Mann auf einer Reise durch Südamerika kennengelernt. Heute lebt sie mit ihm und den beiden gemeinsamen Kindern wieder in der Schweiz.
«Für unser Leben in Kolumbien habe ich einen Grossteil meiner Altersvorsorge eingesetzt.»
Brigitte Solis
Die Alltagskosten können die beiden mit ihrem «Hostal» decken. «Auf mein Erspartes musste ich nur für Familienbesuche in der Schweiz zurückgreifen.» 2020 wirbelt Corona das Familienglück durcheinander. Als die Bedingungen für Gästeunterkünfte verschärft werden, ist der kolumbianische Traum für Brigitte ausgeträumt. «Wir haben damals die Auflage bekommen, alles zu plastifizieren und mit Chlor zu reinigen», erzählt sie. Dazu sei sie nicht bereit gewesen. «Wir haben uns ja von dem Gemüse auf unserem Grundstück ernährt. Ich wollte unter keinen Umständen, dass die Erde mit Chlor verunreinigt wird.»
Statt Gäste zu beherbergen, habe sie am Strassenrand einen Stand mit Backwaren, selbstgemachter Limonade und Kaffee eröffnet. Ihr Sohn, damals sechs Jahre alt, habe bald den Getränkeverkauf übernommen. Die Schulen seien wegen Corona anderthalb Jahre lang geschlossen gewesen. «Als blonder Bub hat er viel mehr verkauft als ich», erinnert sich Brigitte und lacht. Doch Omar und sie sehen keine Zukunft in Südamerika: Nach Corona steigt die Kriminalität massiv an – das Geld der Touristen fehlt spürbar. In diesem Umfeld möchten sie ihre Kinder nicht aufwachsen sehen.
Das Paar verkauft sein Land mit hohem Gewinn. «Die Region war in der kurzen Zeit, in der wir dort gelebt haben, zu einem touristischen Hotspot geworden», erklärt Omar. Auch die Inflation spielt ihnen in die Hände. «Wir haben unser Auto nach sechs Jahren teurer verkauft als gekauft.» Im März 2022 steigt die vierköpfige Familie ins Flugzeug und zieht in Brigittes Heimatkanton Aargau. Es sei immer klar gewesen, dass sie irgendwann für die Ausbildung der Kinder in die Schweiz zurückkehren würden. «Nur dass es so früh sein würde, haben wir nicht gedacht.»
Mit einem Vermögen von rund 130’000 Franken starten sie ihr Leben in der Schweiz. Brigitte hat bereits von Kolumbien aus eine Stelle als Redaktorin bei einem Fernsehsender gefunden – dem Beruf, den sie auch vor ihrer Zeit in Kolumbien ausübte. Omar findet einen Job in einer Bäckerei, zuerst als Velokurier, dann als Verkäufer. «Aber wir wollten der Kinder wegen beide nur Teilzeit arbeiten. Der Kulturschock war auch so schon gross genug.» Brigitte arbeitet in einem 60-Prozent-, Omar in einem 40-Prozent-Pensum. Daneben gibt er Kunstkurse für Kinder. Zusammen verdienen die beiden rund 5100 Franken. Bis heute ist es dem Paar wichtig, dass immer ein Elternteil zu Hause ist.
«Der Kinder wegen wollten wir beide nach dem Umzug in die Schweiz nur Teilzeit arbeiten.»
Brigitte Solis
Diese Entscheidung fordert aber auch ihren Tribut: «Ich plündere unser Erspartes allmonatlich um rund 1000 Franken. Anders geht es nicht», so Brigitte. Allein die Wohnung koste 2140 Franken pro Monat. «Und für das Auto waren gleich am Anfang 20’000 Franken weg.» Für die Krankenkasse zahlt die Familie ermässigte Prämien – und dank der KulturLegi erhält sie weitere Rabatte. «Es ist unglaublich, wie sehr man als Geringverdiener in der Schweiz unterstützt wird», sagt Brigitte dankbar.
Die Familie lebt sparsam, kauft vieles Second Hand. Die Kinder gehen keinen teuren Hobbys nach und die Eltern leisten sich kaum etwas. «Ausser Ferien», gesteht Brigitte. Die seien ihr heilig. Von den 130’000 Franken sei inzwischen nur noch rund die Hälfte übrig. Angst macht ihr das nicht. «Ich habe mir das kolumbianische Laissez-faire zu eigen gemacht. Heute ist heute und morgen ist morgen.» Aber ein bisschen Schweizerin stecke schon noch in ihr. «Ich zahle von unserem Ersparten jedes Jahr das Maximum in die dritte Säule ein. Und in Kolumbien habe ich jeweils den Mindestbetrag von 1000 Franken in die freiwillige AHV gezahlt, um keine Lücke zu haben.»
Die Geschwister musizieren gerne. Die Beiträge für die Musikschule werden subventioniert.
Trotzdem: Die Familie zehrt bewusst von Brigittes Altersvorsorge und dem Ersparten. «Die Idee ist, dass wir unser Arbeitspensum erhöhen, wenn die Kinder älter sind.» Brigitte ist sich durchaus bewusst, dass sie die Familie mit einem 100-Prozent-Lohn alleine durchbringen würde. «Aber für Omars Integration und sein Sozialleben ist es wichtig, dass auch er arbeitet und unter Leute kommt.»
Luis und Lily sind längst in ihrer neuen Heimat angekommen. Auch wenn sich Ersterer hier manchmal vor den Kopf gestossen fühlt. «In Kolumbien konnte ich mein eigenes Geld verdienen», erzählt der 10-Jährige stolz. «Aber hier kann man nicht einfach Saft am Strassenrand verkaufen.» Seine Mutter nimmt ihn in den Arm. «Ich schätze es, dass er versteht, dass man für Geld arbeiten muss», sagt sie. Deshalb dürfe er sich ab und zu bei seinem Grossvater mit Gartenarbeit Geld verdienen. «Für Rasenmähen oder Hundesitting ist er noch zu jung.» Dazu kommt das Sackgeld – 4 Franken pro Woche. «Wir halten uns immer noch an die Uralt-Regel ‹Pro Klasse ein Franken pro Woche›», sagt Brigitte. «Das war bei uns früher schon so.» Sie wisse, dass das nicht mehr zeitgemäss sei. «Im Sommer werden wir das anpassen.»
«Beim Sackgeld halten wir uns immer noch an die Uralt-Regel ‹Pro Klasse ein Franken pro Woche›. Im Sommer werden wir das anpassen.»
Brigitte Solis
Bis jetzt kauft Luis sich von seinem Geld vor allem Süssigkeiten. «In Kolumbien haben wir derart ab vom Schuss gelebt, dass die Kinder sich gar nichts kaufen konnten», sagt Brigitte. Deshalb hätten sie auch erst in der Schweiz mit dem Sackgeld begonnen. «Hier gibt es Läden, hier können sie etwas damit anfangen.» Am liebsten gehen die Geschwister zusammen zum Kiosk oder in den Supermarkt, um zu «chrömle». Lily mag besonders Stofftiere. «Alleine einzukaufen macht Spass!», ruft Lily. Ihre Mutter lacht. «Sie dürfen mit ihrem Geld machen, was sie möchten. Es ist ihr Geld. Das ist mir wichtig.» Zwar sei sie nicht immer glücklich und versuche, Luis von seinen Käufen abzuhalten, aber ein Verbot erteile sie nicht. Meist geht es dabei um In-App-Käufe, die der 10-Jährige für Spiele auf seinem Tablet tätigt.
Lily gibt ihr Sackgeld am liebsten für Plüschtiere aus. Luis hat sich vom Geld seiner Grossmutter ein Tablet gekauft.
«Alleine einzukaufen macht Spass!»
Lily, 9 Jahre
Dass er überhaupt ein Tablet hat, verdankt er dem 80. Geburtstag seiner Grossmutter. Jedes Enkelkind hat im Januar 500 Franken bekommen – unabhängig vom Alter. Luis hat die eine Hälfte für eine «Chill-Ecke» in seinem Zimmer und die andere Hälfte für ein Tablet ausgegeben. «Ein Mini-Kühlschrank lag leider nicht mehr drin», seufzt er. «Sparen ist nicht gerade seine Stärke», ergänzt Brigitte.
«Ich verstehe nicht, dass Kinder, die alles haben, noch mehr wollen.»
Omar Solis
Omar ist dieser sorglose Umgang mit Geld auch nach drei Jahren in der Schweiz noch fremd. «Ich verstehe nicht, dass Kinder, die alles haben, noch mehr wollen», sagt er. «Oder dass sie darüber streiten, wer das rote und wer das blaue Osterei bekommt.» Er selbst sei in bitterer Armut aufgewachsen. «Ich musste mich als Kind entscheiden, ob ich eine Stunde lang zu Fuss zur Schule gehe und mir dafür ein Brötchen leisten kann oder ob ich den Bus nehme und dafür dann den ganzen Tag Hunger habe.» Auch Spielsachen habe er nicht besessen. «Das höchste der Gefühle war, sie im Schaufenster anzuschauen.»
Neben seiner Arbeit in einer Bäckerei gibt Omar Solis Kunstkurse für Kinder.
«Ich musste mich als Kind entscheiden, ob ich eine Stunde lang zu Fuss zur Schule gehe und mir dafür ein Brötchen leisten kann oder ob ich den Bus nehme und dafür dann den ganzen Tag Hunger habe.»
Omar Solis
Für die Kinder ist Geld hingegen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Umso wichtiger ist es den Eltern, sie für das Thema zu sensibilisieren. «Ich möchte auf keinen Fall, dass sie mit ihren kolumbianischen Cousins und Cousinen nachlässig oder angeberisch über Geld reden», sagt Brigitte. Es sei schwierig, den Kindern zu erklären, dass ihr Sackgeld einem Tageslohn in Kolumbien entspreche. «Zum Glück klingen 16 Franken nach viel weniger als 84’000 Pesos. Das macht es etwas einfacher.»
Anfang nächsten Jahres reist die Familie zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr in die Schweiz wieder nach Kolumbien. «Ich möchte meinen 40. Geburtstag gern im Kreise meiner Verwandten feiern», so Omar. Er hat gegenüber seiner Familie ein schlechtes Gewissen, weil er in der Schweiz – trotz eines vergleichsweise niedrigen Lohns – alles hat. Auch Brigitte schämt sich manchmal, sich so viel leisten zu können. «Der Unterschied zwischen den beiden Welten ist einfach extrem.» Andererseits weiss sie, dass ihr Geld für ein Leben in der Schweiz nicht ewig reichen wird. Die Pensionskasse füllt sich nur ganz langsam wieder. «Wenn wir hierbleiben, werden wir aller Voraussicht nach altersarm werden.»
Familie Solis verbringt ihre gemeinsame Zeit am liebsten in der Natur.
«Ich möchte auf keinen Fall, dass meine Kinder mit ihren kolumbianischen Cousins und Cousinen nachlässig oder angeberisch über Geld reden.»
Brigitte Solis
Doch Sorgen um die Zukunft macht sich das Paar nicht. «Wenn wir in den nächsten Jahren nicht genug Geld auf die Seite bringen, ziehen wir nach unserer Pensionierung zurück nach Kolumbien. Aber jetzt sind wir erst einmal gespannt, wie die Kinder Kolumbien nach drei Jahren erleben werden.»
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